Hype? Mythos? Quatsch? Revolution? Was ist Holokratie?

Seit einiger Zeit wird viel über das Organisationsmodell „Holokratie“ diskutiert und es finden sich hierzu unzählige Artikel, Podcasts, Bücher und Meinungen. Ein Grund hierfür ist der super Fit von Holokratie zum Thema „New Work“ und den damit verbundenen, attraktiven Versprechen: So geht es um flache Hierarchien, eine hohe Selbstverantwortung, schnelle Kommunikation und die Förderung von Innovationen. Klingt doch eigentlich (zu) gut? Auf jeden Fall Grund genug sich die Sache etwas genauer anzusehen.

Also was ist Holokratie eigentlich?

Der Begriff Holokratie stammt aus dem Altgriechischen („holos“ = ganz, „kratia“ = Herrschaft). Auf Englisch nennt sich das „Holacracy“. Dabei wurde der Begriff vom Unternehmer Brian Robertson geprägt und in seiner eigenen Firma eingeführt. Die Holokratie geht von der Annahme aus, dass Manager (also im Sinne einer übergeordneten Instanz) häufig gar nicht wirklich fähig sind, gute Entscheidungen zu treffen: Weil sie zu weit weg sind vom relevanten Tagesgeschehen, von den Kundenwünschen oder dem fachlichen Wissen. Notwendige Veränderungen im Unternehmen dauern damit zu lange und beziehen die Mitarbeiter nicht mit ein.

Holokratie möchte dies gänzlich anders machen und gilt als Gegenmodell zu einem hierarchisch geprägten Unternehmen.

Allerdings ist Holokratie keinesfalls Anarchie, sondern funktioniert nach einem mehr oder weniger komplexen Regelwerk. Die Idee von Holokratie ist es, Verantwortung auf sogn. Rollen zu verteilen:

Holokratie vs. Hierarchie

Es gibt den übergeordneten Kreis (teilweise auch „Superkreis“ genannt). Hier werden zunächst die notwendigen Rollen definiert und verteilt. Also bspw. die Rolle „Redaktion“ oder „Finance“. Die Entwicklung wird typischerweise nun so sein, dass die Aufgaben für eine Rolle zu umfassend werden. In diesem Fall wird ein sogn. „Unterkreis“ gebildet. Dieser organisiert sich wiederum selber und generiert neue Rollen. So könnte also der Kreis „Marketing“ entstehen und die Rollen Redaktion, Social Media, Content Marketing etc. beinhalten.

Interessant ist hier auch, dass in der Holokratie eine Trennung zwischen Personen und Rollen erfolgt. Man ist also nicht „Director Social Media“, sondern einfach „Angestellter“ mit den Rollen „Social Media Strategie“ und „Mediaplanung“. Dadurch sollen Missverständnisse (aufgrund mangelnder Kommunikation) über die Zuständigkeiten einzelner Personen vermieden werden.

Mitarbeiter können mehrere Rollen ausfüllen und auch Mitglieder mehrerer Kreise sein. Es gibt in der Holokratie keine starre Stellenbeschreibung, sondern lediglich sich verändernde Rollen. Dabei geht es immer darum, dass die Rollen von Mitarbeitern ausgefüllt werden, die mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten am besten genau dort wirksam werden können.

Ein zentrales Ziel von Holokratie ist es, dass Mitarbeiter Rollen einnehmen, weil sie wirklich dafür geeignet sind.

Alle Personen in einem Kreis haben ein Stimmrecht und können und müssen sich aktiv einbringen. Jeder Mitarbeiter kann eigene Ideen oder Verbesserungsvorschläge einbringen und diese prinzipiell direkt dem CEO (den es natürlich weiterhin gibt) vorlegen.

Damit die Kreise in Kontakt stehen und inhaltlich nicht nebeneinander (oder gegeneinander) arbeiten, gibt es das Prinzip der doppelten Verbindung: Die Kreise entsenden jeweils einen Vertreter in den nächsthöheren Kreis, dem sie angehören, und einen in die unteren Kreise, die zu ihnen gehören. 

Die Idee ist, dass sich Unternehmen mit dem Konzept der Holokratie ständig neu organisieren. Kreise und Rollen können jederzeit verändert oder auch entfernt werden, wenn sie nicht mehr benötigt werden.

Theoretisch klingt das (aus meiner Sicht) auf den ersten Blick nach einem modernen und flexiblem Ansatz. Leider gibt es nur wenige Beispiele, in denen die Holokratie erfolgreich implementiert wurde. Häufig wird immer wieder der US Onlineshop Zappos genannt, der zu diesem Thema sogar eine Website aufgesetzt hat. So stehen die Mitarbeiter von Zappos auch als Holokratie-Testimonials zur Verfügung. Beispielsweise hier:

Im genannten Beispiel (Zappos, Wikipedia 1500 Mitarbeiter) wurden insgesamt über 400 „Kreise“ installiert. Das ist eine ganze Menge. Grundlegend sollte man zu Zappos wissen, dass der Onlinehändler von Amazon übernommen wurden und einige Analysten Zappos als den nächsten Kandidaten für eine Schließung sehen.

Positives an der Holokratie:

  • Holokratie ist ein System um (zumindest theoretisch) flexibel und schnell auf Anforderungen des Marktes zu reagieren.
  • Häufig können (kompetente und gut bezahlte) Mitarbeiter in hierarchisch geprägten Unternehmen nicht über 100 EUR entscheiden. Bei der Holokratie ist das anders. Jeder wird ermutigt, Entscheidungen zu treffen und unternehmerisch zu handeln. 
  • Mitarbeiter in der Holokratie übernehmen Verantwortung und arbeiten (unter Umständen) deutlich produktiver (als in Konzernen). Ebenfalls kann der größere Handlungsspielraum zu einer hohen Mitarbeiterzufriedenheit führen.
  • Holokratie gibt auch dem Chef neue Freiheiten: Er muss nicht mehr Planungen aus jeder Abteilung absegnen, sondern wird (theoretisch) nur noch bei wirklich kritischen Fragen konsultiert.

Negatives an der Holokratie:

  • Dafür, dass es selbstorganisiert ist, erscheint mir das Konzept sehr organisiert. Die Holokratie-Regeln sind teilweise sehr komplex und starr formuliert.
  • Es gibt (so wie ich das gesehen habe) keine belastbaren Beispiele und Nachweise der langfristigen Praktikabilität.
  • Die Holokratie ist wohl nicht für jeden Mitarbeiter geeignet. Nicht jeder möchte sich selbst organisieren. Nicht jeder möchte entscheiden. Nicht jeder kann oder möchte mit soviel Freiheit und Entscheidungsspielraum umgehen.
  • Die Holokratie ist auch ein Geschäftsmodell. So ist die Ausbildung und Akkreditierung zu einem „Holokratie-Berater“ mit hohen Hürden und Kosten verbunden.
  • Die Holokratie erfordert ein radikales System und Regelwerk. Wenn die Umsetzung der Holokratie nicht „richtig“ (also so wie vorgesehen) erfolgt, erzeugt sie wohl mehr Chaos als Nutzen. Daher ist dies wohl eher ein Modell für ein Startup oder kleines Unternehmen als für Siemens, Volkswagen und co.

Das System macht den Unterschied

Die Mitarbeiter bei Google sind nicht schlauer als in anderen Unternehmen (ihr wisst wie ich das meine). Bei einer Unternehmensberatung auch nicht unbedingt (ihr wisst wie ich das meine). Der Erfolg dieser Unternehmen ist aber eben auch durch das System begründet. Die Mitarbeiter haben hier eine hohe Verantwortung, handeln stark unternehmerisch. Leider häufig sehr im Gegensatz zu den Mitarbeitern in Konzernen (und leider teilweise auch zur Agenturwelt). So wird das System – also WIE gearbeitet wird – aus meiner Sicht immer wichtiger. Im Zweifel sogar erstmal wichtiger als die Mitarbeiter selber.

Natürlich gibt es auch in eher normal/klassisch organisierten Unternehmen viele Möglichkeiten, damit Mitarbeiter mehr Mitbestimmung haben und letztlich zufrieden(er) arbeiten (bspw. agile Modelle). Doch der Holokratie reicht es nicht ein bisschen agiler zu arbeiten oder sich in Arbeitskreisen zusammenzufinden (was so halbherzig natürlich auch nicht so viel Sinn macht). Holokratie bedeutet vielmehr eine radikale Veränderung der Arbeitsorganisation.

Da in den meisten Unternehmen eher zu viele als zu wenige Führungskräfte installiert werden und die Bürokratie in Unternehmen alleine in Deutschland um die 800 Milliarden EUR (siehe Beitrag „Bürokratie zerfrisst Produktivität und Innovation„) Schaden erzeugt, ist es grundlegend zu begrüßen, dass neue Ideen ausprobiert werden, die ohne klassische Hierarchien auskommen. So ist die Holokratie (aus meiner Sicht) dann auch eher als Gedankenfutter und Ansatz zum Experimentieren geeignet. Eine Abteilung der Telekom und einzelne Bereiche der Deutschen Bahn wollen das Konzept derzeit testen.

Letztlich ist die Holokratie bestimmt nicht das Wundermittel für alle Probleme in Unternehmen. Aber es ist ein interessanter Ansatz, der gut zur schnelllebigen und komplexen Arbeitswelt passt und Selbstorganisation und effizientes Arbeiten auf Augenhöhe fördert.

5 Antworten

  1. Christoph sagt:

    Hallo Lars, sehr schöner Artikel der das Thema schön hype befreit beschreibt.
    Ein praxisnahes Beispiel aus dem DACH Agenturumfeld gibt es allerdings: die Schweizer Digital-Agentur Unic hat 2017 auf Holocracy umgestellt und ist bis jetzt dabei geblieben. Wie es ihr dabei geht, schreiben sie unter anderem auf ihrem Blog https://www.unic.com/de/kompetenzen/unic-blog/tag/insights#6q6dn9s7, und Ivo Bättig äusserst sich auch ausführlich in seinem Xing Stream (nennt man das so)? https://www.xing.com/profile/Ivo_Baettig/articles über Holocracy. Eventuell findet sich da Inhalt für eine Fortsetzung des Posts.

    • Christoph sagt:

      Und noch ein Beispiel von einem Unternehmen, das mich ich ein kleines bisschen überraschst hat: https://www.mercedes-benz.io/

      • Lars sagt:

        Wow, Christoph, ganz lieben Dank für deine Kommentare und Links. Ich finde das Thema super spannend und bleibe da auf jeden Fall dran. Es geht hier aus meiner Sicht vor allem um Förderung von Selbstorganisation und darum, Mitarbeiter aktiver einzubeziehen und dazu zu bringen, dass sie sagen: „das ist MEIN Projekt, ich bin dafür verantwortlich und bringe das weiter“.

        Super, dass es da immer mehr Unternehmen gibt, die neue Ansätze im Sinne der Holokratie ausprobieren.

  1. 28. Januar 2019

    […] Warum lassen Mitarbeiter die erhoffte Verantwortungsbereitschaft vermissen – und werden deswegen als „nicht gut“ eingeschätzt? Ich bin davon überzeugt, dass ein Grund ist, dass sich Menschen eigentlich immer im System optimieren (vgl. auch Artikel “Hype? Mythos? Quatsch? Revolution? Was ist Holokratie?“). […]

  2. 15. September 2019

    […] Hinter dem Konzept der OKRs steht kein festes Modell mit klaren Regeln wie bspw. bei der Holokratie. Vielmehr sind OKRs ein Prozess, bei dem die Ziele des Unternehmens mit den Zielen von Teams bzw. […]

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