Warum wir dringend mehr Komplexität brauchen

Das Leben ist kompliziert. Vermutlich würde das jeder so oder so ähnlich sagen. Und das gilt wohl für nahezu alle Bereiche im Leben.
Mal eben das Kind zur Kita anmelden – schön wärs. Wir haben uns bei zahlreichen Kitas online angemeldet, angerufen, mehrmals nachgefragt und Bewerbungsschreiben eingereicht. Im Job gilt es zu performen, nebenbei muss man sich vernetzen, vor dem Chef eine gute Figur machen, innovativ und motiviert sein. Und immer Gas geben, aber ohne dabei mit den Kollegen anzuecken. Alles halt super kompliziert. In der Unternehmenswelt hat sich das Akronym VUCA für die disruptiven Veränderungen etabliert.

Jetzt gibt es vermutlich eine Vielzahl an Gründen, warum das Leben so kompliziert geworden ist. Ich denke auf der einen Seite ist das die Digitalisierung und die Globalisierung, die einfach vieles komplexer werden lässt. Ich glaube ein anderer Grund, warum es sich anfühlt, dass das Leben so kompliziert ist, sind wir selber. Denn die Ansprüche an viele Bereiche im Leben sind einfach größer geworden. Unsere Erwartungen an uns selbst und unser Umfeld sind oft mit einen Idealzustand verbunden. Nur, wenn alles richtig gut läuft, ist es „richtig“. Und wenn nicht, dann muss optimiert und nachjustiert werden. Dieser ganze Trend zur Selbstoptimierung ist ein sichtbarer Beweis dafür.
Aber auch das egoistische Abteilungsdenken, langwierige Planungs- und Entscheidungsprozesse, umständliche Genauigkeit oder ein extrem aufgeblähtes Berichtswesen tragen gerade in Deutschland zu der gefühlten Komplexität bei.

Eine Antwort für auf die vorherrschende Komplexität ist New Work, sind Selbstorganisation und Agilität, die das „Top-Down-Prinzip“ ablösen möchten.

Eine andere, weniger schöne Entwicklung, ist der Populismus. Und auch in der Berichterstattung in den Medien sind vielfach undifferenzierte Eindeutigkeiten gefragt. Noch nie wurde die bei Journalisten beliebte Redewendung „Fakt ist“ derart inflationär gebraucht.
Aus meiner Sicht ein echtes Problem! Ein kleines, spontanes Plädoyer für mehr Zweifel und mehr Widersprüchlichkeit und dafür, wieder mehr Komplexität zuzulassen.

Ich arbeite in der Kommunikationsbranche. Und da geht es sehr häufig darum, dass komplexe Zusammenhänge einfach und verständlich aufbereitet werden. Das ist auch (meist) total in Ordnung. Die Werbung geht da noch einen Schritt weiter und versucht eine Botschaft auf ein Wort oder einen Satz zu kondensieren, der optimalerweise besonders merkfähig ist. Im Kern geht es um die Konzentration auf das Wesentliche bzw. das „Weglassen des Unwesentlichen“. Auch das ist in Ordnung, denn Kunden verstehen meiner Sicht ziemlich gut, dass es eben nur Werbung ist.

Der Wunsch nach einfachen Botschaften

Ein Problem dagegen sehe ich ganz aktuell in der politischen Berichterstattung. Auch dort wird viel zu häufig Marketingsprech verwendet. Botschaften werden kondensiert und vereinfacht. Im Gegensatz zur Werbung ist das hier nicht OK.

Die Autorin Mely Kiyak hat vor kurzem mehrfach gesagt, dass die Sommerinterviews (also die mit Politikern) abgeschafft werden sollten.

Der Grund? Es werden keinerlei (neue) Inhalte vermittelt – maximal 1,2 ergänzende Aussagen. Doch das ist nicht „ausversehen“ so, sondern von den Medien und Politikern gleichermaßen so gewollt.

Denn die Wähler sollen keinesfalls aufgewühlt und mit der komplexen Realität konfrontiert werden.

„Was soll die arme Fleischereifachverkäuferin mit [Energiepolitik, Landwirtschaftspolitik, Umweltfragen, Pandemie…] anfangen? Das ist für die doch alles viel zu kompliziert!“

Ironischer Kommentar von Mely Kiyak im Podcast „Kompressor“ von Deutschlandfunk

Da passt auch gut Armin Laschet rein, der im aktuellen Wahlkampf versucht auf keinen Fall irgendwo anzuecken. Der Lasch-O-Mat überspitzt dies sehr schön. Die Website generiert Zitate, die Armin Laschet zwar nie gesagt hat – aber gesagt haben könnte.

Lasch-O-Mat

Die Kombination aus Mutlosigkeit und Kalkül, die bei Armin Laschet zu beobachten ist, hat allerdings einen Grund. Er und sein Wahlkampf-Team gehen davon aus, dass es die Wähler nicht honorieren, wenn es zu konkret wird. Sie wollen sich lieber im „Schlafwagen-Modus“ zum nächsten Wahltag schaukeln lassen.

Ich wäre mir da nicht so sicher. Der Grund, dass der Lasch-O-Mat so gut ankommt ist doch der Wunsch nach wahrhaftigen Politikern und auch nach Themen und einer Diskussion, die über das Niveau der 3. Klasse hinausgeht. Und ich bin überzeugt, dass auch die Fleischereifachverkäuferin damit sehr gut zurechtkommt.

Warum die Dinge nicht einfach sein dürfen

Das Problem an der Sache: Das doofe Niveau in den Medien lockt auch vor allem auch „doofe Menschen“ an. Die wirklich interessanten Diskussionen finden gar nicht mehr in der Öffentlichkeit statt.

Und die doofen Leute sind sich ihrer Sache immer sehr bewußt und habe eine klare Meinung. Beispiel: Abtreibungen sind Teufelszeug und Frauenquoten Planwirtschaft.

Dagegen sind die intelligenten ganz häufig voller Zweifel.

Und deshalb dürfen die Sachen nicht einfach sein.

Wer liest eigentlich noch Artikel?

Beim Journalismus und der Vermittlung wichtiger Inhalte muss heute leider jeder Text um die Aufmerksamkeit der Leser kämpfen. Das führt dazu, dass es Texte zu komplizierteren Themen immer schwerer haben, überhaupt wahrgenommen zu werden – und deswegen auch seltener geschrieben werden.

Headlines werden häufig so formuliert, dass sie gut geklickt werden. Zum Beispiel eine Headline wie „Warum du nicht … darfst!“ führt aber zu einer Polarisierung. Die einen rufen „Ja, super – genauso! Die anderen „Was soll der Scheiß!?“. Und los geht das Zerfleischen beider Gruppierungen in den Kommentaren.

Der Gegenseite zuhören, sich ernsthaft mit ihren Argumenten auseinandersetzen, das passiert immer weniger. Und was auch häufig nicht mehr passiert: Der Klick auf den Artikel selbst. Empörte Kommentare werden aber trotzdem abgegeben, dann allerdings nur auf Basis einer völlig überdrehten Überschrift und vielleicht eines reißerischen Teasertextes.

Diese Vereinfachung von Inhalten (in den Headlines) führt dazu, dass Feinheiten zur Sachlage, die im Artikel selbst oft noch angesprochen werden, gar nicht in die Debatte einfließen.

Mehr Zweifel, mehr Widersprüchlichkeit, mehr verschiedene Perspektiven?

Wie also kann die Komplexität wieder mehr Raum bekommen? Wie können wir mit Zweifeln leben?

Vermutlich gar nicht so einfach. Wichtig ist aber sicher, dass wieder mehr andere Perspektiven zugelassen werden. Menschen, die wirklich etwas zu sagen haben. Das müssen nicht immer die vermeintlichen Experten und Politiker sein. Auch ein Musiker hat bestimmt gute Gedanken zur Flüchtlingskrise. Aber das funktioniert nicht, wenn es in den Medien eigentlich nur noch darum geht, ob etwas richtig oder falsch ist.

Da reicht es eben auch nicht zu diskutieren, ob Inlandsflüge erlaubt sein sollen oder nicht.

Es gibt es doch so viele spannende Menschen, die viel zu sagen haben. Nur finden diese in der (breiten) Öffentlichkeit nicht statt. Schade. Und gefährlich.

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