Vergesst die Spezialisierung! Ein Hoch auf Generalisten

Vor einigen Jahren galt ich wohl als Spezialist – oder vielleicht auch als Nerd. Zumindest zu der Zeit als ich in „echten“ Werbeagenturen gearbeitet habe. Da ich mich sehr früh sehr intensiv mit Social Media, Online Marketing und Online Campaigning beschäftigt hatte, war ich der Online-Profi.
Aber das stimmte vor allem aus Sicht eines klassischen Werbers. Ein waschechter Social-Media-Profi oder ein SEO-Crack würde mich natürlich nicht (und heute noch weniger) als Spezialisten verstehen. Klar, ich habe super viel Erfahrung im Digital Business. Aber dennoch bin ich ganz sicher eher Generalist.
Und so wie mir geht es sicher vielen anderen. Doch ist das nun gut? Oder schlecht? Durch die Digitalisierung werden auf jeden Fall immer mehr Fachexperten benötigt. Fachkräftemangel und so.
Und dennoch braucht die Unternehmenswelt vor allem auch die Generalisten. Der sehr empfehlenswerte Bestseller „Range“ von David Epstein zeigt auf, warum in einer spezialisierten Welt gerade die Generalisten benötigt werden.
Vor einigen Monaten habe ich im Beitrag „Suche dir endlich ein Nischenthema“ selber dafür plädiert, dass es gut ist, wenn man sich (sowohl als Einzelperson oder auch als Unternehmen) in einer Nische bewegt. Und das stimmt vermutlich auch weiterhin. Denn ein Spezialist kann seine Kräfte und Kompetenzen bündeln. Vor allem aber ist es gut, wenn man ein Thema gefunden hat, für das man sich begeistern kann. Ich habe großen Respekt vor jedem, der sich damit etwas Neues aufbaut und als Experte wahrgenommen wird.
Und dennoch ist eine Spezialisierung nicht unbedingt der Königsweg zum Erfolg. Womöglich ist das auch nur ein Wunschdenken von mir, aber im Buch „Range“ wird von Epstein sehr eindrücklich aufgezeigt, dass es Generalisten vielen Fällen weiter bringen.
Die Annahme, dass wenn man erfolgreich sein will, man sich möglichst früh auf eine Sache spezialisieren sollte, ist tief in vielen Bereichen verankert – von der Medizin über die Finanzwelt bis zum Marketing.
Den Weitblick verloren
David Epstein beschreibt, dass bspw. Onkologen sich heute vielfach nicht mehr allein auf Krebserkrankungen spezialisieren. Sie spezialisieren sich auf Geschwüre in ganz bestimmten Organen. Und sicherlich ist eben diese Spezialisierung in einigen Bereichen sinnvoll. Bei einer komplizierten Operation möchte man ja im Zweifel von einem erfahrenen Spezialist betreut werden, der genau diese Art von OP schon 1000 Mal gemacht hat.
Doch in vielen Bereichen führt eben dieser enge Fokus auf Dauer zu wenig guten Ergebnissen. Hier nennt Epstein in seinem Buch folgendes Beispiel: Viele Kardiologen behandeln Brustbeschwerden mit sogenannten Stents (Röhrchen, die verengte Gefäße offenhalten). Das Problem: Viele Kardiologen setzen solche Stents aber inzwischen so reflexartig ein und hinterfragen gar nicht mehr, ob der Eingriff unnötig oder sogar gefährlich sein könnte.
Weiterhin hat der Autor Anupam Jena herausgefunden: Patienten mit Herzversagen hatten bei ihrer Einlieferung in die Notaufnahme eine große Überlebenschance, wenn die Top-Kardiologen außer Haus waren.
Das Problem war, dass viele Kardiologen den Weitblick verloren haben, da sie zu lange innerhalb einer (zu engen) Spezialisierung aktiv sind. Dieses Beispiel lässt sich vermutlich leicht auf andere Bereiche übertragen.
Experten treffen häufig schlechte Entscheidungen
Ein weiteres Beispiel in dem Buch zeigt, dass Experten vielfach einfach schlechte Prognosen treffen.
Der Psychologe Philip Tetlock hat untersucht, wie Experten mit Prognosen umgehen. Er sammelte und analysierte die Vorhersagen von 284 politischen Experten und kam zu einem dramatischen Urteil: Die vermeintlichen Experten lieferten schreckliche Prognosen. Sie hätten genauso gut Laien sein können.
Es machte gar keinen Unterschied, wie viele Jahre Berufserfahrung und welche akademischen Titel die Experten hatten. Auch nicht der exklusiver Zugang zu bestimmten Informationen spielte eine Rolle. Wenn für die Experten ein bestimmtes Ereignis „absolut unmöglich“ war, traf es in 15 Prozent der Fälle trotzdem ein. Dinge, denen sie eine hundertprozentige Wahrscheinlichkeit bescheinigten, blieben in jedem vierten Fall aus.
Eines ihrer größten Probleme war ihr monothematischer Fokus. Sie hatten sich ganze Karrieren lang in einen bestimmten Sachverhalt verbissen und arbeiteten mit expliziten, aber vorgefertigten Theorien.
Ein Hoch auf Generalisten
Die Schlussfolgerung in dem Buch „Range“ ist, dass es Generalisten in vielen Fällen weiterbringen, da sie sich länger ausprobieren, um ihre Neigungen und Talente zu erforschen.
Daraus resultiert eine Flexibilität, die in einer VUCA-Welt immer wichtiger wird. Es ist hoch relevant, dass sich Mitarbeiter in einem Unternehmen flexibel in neue Themenfelder einfinden können. Oder vielleicht sogar zwischen verschiedenen Rollen (Führungsaufgaben, Projektrollen und Expertenrolle) wechseln können. Unternehmen benötigen Mitarbeiter, die schnell auf einer neuen Position eingesetzt werden können. Mitarbeiter, die wandelbar sind und sich gern in neue Anforderungsbereiche einarbeiten.
Genau das macht vielen Generalisten Spaß, sie trainieren und lieben Flexibilität. Generalisten sind häufig Menschen, die sich schnell langweilen und die mehr „Macher“ als tiefgründige Denker sind. Sie haben viele Talente und kombinieren Kompetenzen aus unterschiedlichen Bereichen.
So liegt eine große Stärke darin, eben sie eben keine Spezialisierung haben.
Generalisten sind gut darin sich immer wieder auf neue Situationen und Anforderungen einzustellen. Es fällt ihnen leicht, strategisch zu denken und neugierig nach vorne zu blicken. Generalisten agieren häufig als Moderatoren und es macht ihnen Freude, neue Perspektiven ins Gespräch zu bringen oder auch Menschen und Themen miteinander zu verbinden.
Alles-etwas-und-nichts-richtig-Können
Und doch haben es Generalisten schwer bzw. sie machen es sich wohl häufig selber schwer. Denn vielfach fragen sich die Generalisten: Weiß ich auch genug? Kann ich genug?
Viele Generalisten stehen sich selber im Weg wie der Business-Coach Bernd Slaghuis in dem tollen Artikel „Liebe Generalisten, es reicht!“ aus dem letzten Jahr formuliert hat.
Denn viele vergleichen sich stets mit echten Spezialisten. Und auch ich ertappe mich häufig dabei, dass ich denke „Ach, wäre es doch schön, Experte in einem Gebiet zu sein“.
Und letztlich mag auch ganz allgemein die Gesellschaft vor allem die Spezialisten und liebt es Menschen in Schubladen zu stecken. Viele (auch Personaler) denken wohl insgeheim bei den Generalisten: Die können alles und nichts so richtig, wobei man sich doch spezialisieren und auf eine Sache konzentrieren müsste?
Vielseitigkeit erfordert Geduld, Offenheit und Neugier
David Epstein geht davon aus, dass ein breiter Wissenshorizont und Experimentierfreude eher zum Erfolg führen als eine (zu enge) Spezialisierung.
Unternehmen benötigen Mitarbeiter, die vielseitig sind und das „große Ganze“ überblicken können. Mitarbeiter, die ganzheitlich, strategisch und in Zusammenhängen denken.
Es sind die Generalisten, die Personen aus den verschiedensten Bereichen eines Unternehmens an einen Tisch bringen können, um gemeinsam an Ideen und Lösungen zu arbeiten. Die Fähigkeit als Brückenbauer zu agieren ist häufig erfolgsversprechender als eine Spezialisierung.
Mit einem breiten Wissenshorizont zu agieren und die Perspektiven anderer einzunehmen erfordert allerdings auch viel Geduld, Offenheit und Neugier. Zum Glück gibt es die Generalisten!
Hey Lars,
danke für einen sehr sympathischen Artikel für und über uns Generalisten.
Lieben Dank, Ric 🙂